Dass uns etwas aufginge

Ein Porträt der Komponistin Iris Szeghy

Von Thomas Meyer

Es war ein persönlich prägendes Erlebnis, das Iris Szeghy mit siebzehn Jahren erstmals bewog, einen Text zu vertonen und eigene Musik zu schreiben. Damals entschied sie sich sogleich, Komponistin zu werden und so die Sehnsucht nach Monolog und gleichzeitig Dialog zu gestalten. In ihrer Musik spricht Iris Szeghy Gefühle und Gedanken in einer direkten Art und Weise aus, wie es sonst in zeitgenössischem Musikschaffen selten ist. In der Reduktion auf das Wesentliche hat sie zu einem Stil gefunden, der die Musik auf einen Punkt bringt und gleichzeitig eine Vielschichtigkeit der Aussage schafft.

Drei Instrumente stimmen sich ein, geraten in ein wildes Durcheinander. Dann beginnen sie zweimal ein einfaches, an Mozart erinnerndes Thema, das aber jeweils kurz darauf durcheinander gerät, auseinander bricht und in Säuseltönen verebbt. Der dritte Anlauf wird grob gestört. Mutlos endet die Musik. „Wir leben ständig für die Zukunft. Ewiges Stimmen – und das Konzert beginnt nie.“ heisst der Aphorismus von Ludwig Börne, den Iris Szeghy hier in Töne umgesetzt hat. Das Stück dauert knapp zwei Minuten, aber so kurz es ist, so eröffnet sich in Text und Musik dennoch eine riesige Dimension. Da drängt sich die Aussage auf engstem Raum, wird zusammengestaucht und explodiert gleichsam.

Es handelt sich um den fünften der sieben „Afforismi II“ für Flöte, Oboe/Englisch Horn und Bassklarinette aus dem Jahr 1992. Solch knappe musikalische Formulierungen sind eine Stärke von Iris Szeghy. Sie deswegen als Aphorismen- oder Miniaturenkomponistin (à la Kurtág) zu bezeichnen, wäre dennoch zu einseitig – sie hat durchaus weiter ausgreifende und ganz anders geartete Stücke geschrieben, sie hat grosse Ensembles bedient, zum Beispiel ein Cellokonzert geschrieben oder einen weiten Bogen in der Orchesterkomposition „Homewards“ gezogen. Seit fünf Jahren arbeitet sie an einem ausgedehnten Zyklus für kleines Orchester: den „Tableaux d’un Parc“, die in einer Art Promenade an den Bäumen eines imaginären Parks vorbeiführen. Und soeben hat sie ein umfangreiches Werk für Streichorchester nach Bildern von Paul Klee beendet: „ Ad Parnassum“.

Auf den Punkt gebracht, auch über Umwege

In den „Afforismi“ zeigt sich auf markante Weise, was auch in den längeren Werken zutage tritt: Iris Szeghy versteht es, etwas auf den Punkt zu bringen. Auf geschickte und schlüssige Weise führt sie das Ohr (und dadurch das Mitdenken und Mitfühlen). Das kann durchaus über Umwege führen. In der Vertonung von Gedichten etwa wählt sie nicht den herkömmlichen Weg, einem Text linear – notfalls mit ein paar Wiederholungen – zu folgen. Sie dreht ihn vielmehr und beleuchtet ihn von verschiedenen Seiten. Den „Psalm“ von Paul Celan – wahrlich kein anspruchsloses Gedicht! – behandelt sie so auf zweierlei Weise: Dunkel und schnell spricht und flüstert die Solostimme den Text; er ist zunächst kaum verständlich, denn wie auch sonst oft bei Szeghy setzt die Musik im Nichts, im Pianissimo an. Es ist das Nichts, das auch aus dem Text spricht: „Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, niemand bespricht unsern Staub. Niemand.“ heisst es in der ersten Strophe – und später: „Ein Nichts waren wir, sind wir, werden wir bleiben, …“ Zwischen diese Textrezitationen werden zunächst einzelne langgehaltene Töne auf Silben wie u, um, uo, ua gesetzt; es handelt sich um Klagelaute, die sich allmählich steigern bis hin zu einer weiteren Gesangslinie und zu einem Fortissimo. Es ist ein Lamento, das hier, so paradox es klingen mag, im Einklang mit dem Gedicht aufblüht: „die Nichts-, die Niemandsrose“. Nach einem Höhepunkt folgt eine Rückkehr zum Anfang. Schliesslich aber setzt über den Worten „Gelobt seist du, Niemand. Dir zulieb wollen wir blühn. Dir entgegen.“ ein Psalmodieren ein, in einem „quasi hebräischen Psalm“, wie die Komponistin sagt. Das Stück führt das Ohr so eine Zeit hindurch auf einem Weg des Ausharrens, des Aushaltens geradezu, auf einem Weg durch das Nichts und durch die Klage, und es findet im Schluss zu der einfachsten, gerade noch und wieder möglichen und damit auch etwas versöhnlicheren Ausdrucksweise.

Ein jüngeres, eindringliches Stück ist „Vielleicht, dass uns etwas aufginge“, komponiert 2002/2003 für Sopran und Streicher, uraufgeführt 2003 von Sylvia Nopper und dem Concerto Boswil. Fünf kurze Gedichte von Klaus Merz hat Iris Szeghy hier verwendet. Es geht darin um Zeit und Leben und Tod. Das Titelgedicht „Wunsch“ lautet „Vielleicht, / dass uns / etwas aufginge. / Einmal. / Per Zufall. / Für immer.“ Diese Kürze, die doch sofort in die Tiefe reicht, war ihr dabei wichtig: „Der Kontrast zwischen der Sparsamkeit der Mittel und der Dichte der Gedanken, der ‚Stille’ dahinter hat mich musikalisch stark inspiriert – von diesem stillen Drängen, der Stärke des Unausgesprochenen ist auch mein Stück geprägt.“ Schreibt sie in ihrem Werkkommentar. Im Gespräch fügt sie hinzu: „Diese Reduktion auf das Wesentliche steht mir auch sonst sehr nah. Auch als Komponistin bin ich auf der Suche danach. Und dabei ist das Spektrum dieser Gedichte ganz breit, sie umfassen den ganzen Horizont, sie sprechen vom Leben, vom Tod, von banalen Sachen auch, vom Alltag, vom Glück, von Verzweiflung, mit ganz wenigen, aber dichten, starken Worten.“

Diese Breite der Aussage liess auch keine eindimensionale Art der Vertonung zu. Sie führte Iris Szeghy dazu, diese Gedichte gleichsam zu drehen. Sie hat sie in eine Art Rondoform gebracht. Das Titelgedicht kehrt dreimal wieder, und jedesmal erscheint es uns anders, in einem anderen Licht, einer anderen Stimmung. Der „Wunsch“ wird so zum Schlüssel, und die Utopie des Wunsches schwingt im Schluss eines sich immer mehr zersetzenden Violinsolos aus. Das ist die Öffnung.

So scheinbar einfach das gemacht ist, so wirkt es doch alles andere als banal . Dazu sind die Mittel zu fein abgestuft eingesetzt. Sie können, wie in den „Three Shakespearean Songs“, einem Zyklus von 1990, ganz verschiedene Elemente enthalten: H-dur neben Geräusch-haftigkeit der Sprache; Fugati neben aleatorischem Kontrapunkt. Die unendlichen Möglichkeiten, die sich durch die Freiheit der Neuen Musik bieten, kennt Iris Szeghy durchaus. Dennoch finden sich solche hypertrophe Kompositionen, in denen alle denk- und gerade noch ausführbaren Spielweisen und Effekte eingesetzt werden und die dadurch oft zur Unfasslichkeit neigen, bei ihr nicht. Vor allem im Verlauf der 90er Jahre fand Iris Szeghy zu einem eigenen, klar umrissenen und doch offenen Stil, der zwar die Möglichkeiten neuen Komponierens vom Serialismus bis hin zur Minimal Music kennt, das aber nicht als Selbstbedienungsladen betrachtet, sondern gezielt damit arbeitet. Anders gesagt: der die Musik auf den Punkt bringt.

Existentielles Ausdrucksbedürfnis

Diese Klarheit der Aussage verbirgt nicht, dass diese Musik ihre Wurzeln in einem existentiellen Ausdrucksbedürfnis hat. Es sind Fragen zum Dasein und zur Transzendenz, die diese Musik – und die schliesslich auch den Hörer bewegen. Es ist eigenes Erleben, das die Kompositionen auslöst, das aber in der Musik überhöht wird. Dass die zunächst als Pianistin ausgebildete Iris Szeghy überhaupt zu komponieren begann, verdankt sich einem solchen prägenden, persönlichen Erlebnis. Es bewog sie, sich der Komposition zuzuwenden „Ich musste mich irgendwie mit diesem Ereignis auseinandersetzen und habe Zuflucht in Gedichten gesucht. Und ein Text sprach mich so stark an, dass ich ein starkes Bedürfnis fühlte, ihn zu vertonen. Es war das erste Mal, dass ich überhaupt auf die Idee kam, eigene Musik zu schreiben.“ Sie war damals siebzehn. Nach dieser ersten Begegnung mit dem Komponieren hat sie sich entschieden, ihr Leben der Komposition zu widmen.

„Für mich ist Kunst oder meine Musik gleichsam eine Botschaft, eine Brücke zwischen mir und dem Zuhörer, aber auch eine Brücke zwischen etwas, was mich beschäftigt, und mir selber“, sagte sie vergangenes Jahr im Gespräch. 1999 formulierte sie dieses Bedürfnis in einem Vortrag in Bratislava: „Die Musik ist für mich eine Sehnsucht nach Monolog und Dialog zugleich, nach Selbstäusserung, Selbstbestätigung und Selbsthingabe, eine Frage, die für Antworten steht, eine Antwort, die für Fragen steht.“ Musik steht nicht nur für sich selber, sondern spricht gleichzeitig jemanden an, ist auch ein Appell.

Dialogpartner in diesem Oeuvre können zum Beispiel Texte sein – von Michelangelo, Shakespeare, Paul Celan, Klaus Merz oder Ingeborg Bachmann, aber auch Gemälde wie jene von Paul Klee in „Ad Parnassum“ oder von Vladimir Mironenko, einem jungen russischen Maler, im Falle von „In Between“ für Oboe und Tonband , oder die Statuen Rodins im Werk für Violine und Klavier „Hommage à Rodin“. Eine wichtige Nebenrolle spielt auch die Auseinandersetzung mit der musikalischen Tradition. In der „Musica folclorica“ ist es Bartók und die Volksmusik, in „ Bolero-Blues“ der Jazz und die Ravelsche Steigerungsform, in der „Ciaconna“ für Violine/Viola von 1991 ist es Bach, in „Ad Parnassum“ sind es Mozart und Bach im letztgenannten Werk arbeitet sie erstmals auch mit direkten Zitaten).

Zulassen

Ihre ersten Stücke waren im Grundton eher traurig gestimmt. Sie habe vielleicht eine Neigung zu den traurigen Seiten in der Musik, meint Iris Szeghy. Ein wichtiges Beispiel dafür ist die „Musica dolorosa“, das Streichquartett von 1985, das ebenfalls auf einem persönlichen Erlebnis basiert. Mit diesen anfänglichen düsteren Tönen begnügte sie sich nicht auf die Dauer, und das macht eine ihrer besonderen Qualitäten aus: die Vielfalt der Gefühle und Stimmungen. Ihre Musik lebt von Kontrasten – lyrische Töne finden sich neben dramatischen, feinste Poesie kontrastiert mit heftigen, manchmal geradezu brutalen Eruptionen, wie z. B im Schlagzeugduo „Midsummer Night´s Mystery“ oder im Quintett „It-Movements“.

Iris Szeghys Musik ist, was in der zeitgenössischen Musik nicht gerade selbstverständlich ist, manchmal auch witzig, ohne deshalb gleich böse oder sarkastisch werden zu müssen: „Ich finde Humor sehr wichtig, nicht nur im Leben, sondern auch in der Musik. Es ist nicht einfach, mit den Mitteln der zeitgenössischen Musik witzig zu sein, allein weil diese Sprache so existentiell geprägt ist, oft sehr abstrakt und konstruktivistisch, dass gar kein Raum für Humor bleibt.“ Bereits im Streichquartett „Musica dolorosa“ von 1985 verwendete sie einen als Allegretto giocoso überschriebenen Satz, der andere, leichtere Töne ins Spiel brachte. Diese Heiterkeit, dieser Humor ist allerdings nicht naiv, er kann auch bitter wirken. Es gibt mehrmals in ihrer Musik, im dritten der Shakespeare-Songs ebenso wie in „Vielleicht, das uns etwas aufginge“ Momente irritierenden, ja zuweilen fast grausamen Lachens. Der grosse theatralische Eklat, mit dem die Pianistin/der Pianist am Ende des „Bolero-Blues“ das Klavier zuschlägt und schreiend davonrennt, verleitet zum Lachen und zeugt doch auch von Verzweiflung. Die Gefühle sind nicht eindeutig.

An anderen Orten, wo es wirklich um Schicksalshaftes geht, ist wiederum eine grosse Zärtlichkeit zu spüren und auch zum Beispiel das Gefühl der Dankbarkeit am Ende der „Oratio et gratiarum actio pro sanitate matris meae“, die sie nach der Genesung ihrer Mutter geschrieben hat. Man muss es vielleicht nochmals sagen, dass solche Dinge in der Neuen Musik nur selten so direkt musikalisch ausgesprochen werden. Das Zulassen von Gefühlen und Gedanken, die in der Neuen-Musik-Szene eher abgelehnt werden, die vielleicht sogar als sentimental verpönt sind, ist etwas Wichtiges gerade auch in Szeghys Musik. Und man, nein: ich wäre geneigt, einmal mehr die von vielen Freunden und Freundinnen schon widersprochene Behauptung aufzustellen, dass Komponistinnen eben häufiger solches auszudrücken wagen als ihre männlichen Kollegen. Nun denn, beweisen kann ich’s natürlich nicht.

Zu diesem Zulassen gehört auch, dass durchaus auch tänzerische, rhythmisch prägnante Sätze vorkommen, gerade etwa im „Ritmico“ der „Musica folclorica“ die Volksmusik des Donaugebiets, der balkanisch-ungarisch-slowakischen, verwendet und als Hommage an B é la Bartók geschrieben wurde. „Volksmusik habe ich häufig in meiner Kindheit gehört, und der Tanz als solcher verkörpert für mich sehr viel, etwa auch die positive Seite des Lebens. So wie Humor.“ Und: „Volksmusik ist auch etwas, das heutzutage ziemlich unterschätzt wird, speziell in der Neuen-Musik-Szene. Ich halte dies für sehr ungerecht. Sie hat eine sehr magische, archetypische Kraft in sich.“ In einer wiederum klaren Form mit drei Hauptsätzen stellt sie das Poetische, das Balladenhafte und das Rhythmische, die Hauptcharaktere der Volksmusik dar. Dazwischen sind vier kurze Nebensätze geschoben, die ähnliche Motive verarbeiten.

Wenn also manchmal etwas verspielt daherkommt, heisst das nicht, dass deshalb die existentiellen Aussagen, die hinter dieser Musik stehen, verleugnet oder abgeschwächt würden, eher sogar hat dadurch die Vielschichtigkeit der Aussage zugenommen, die Menschlichkeit, die Kommunikation. Hier wird das Ohr nicht auf eine Aussage hingedrängelt, bei der es keinen Ausweg mehr gibt, sondern an einen Punkt geführt, wo sich eben auch vieles wieder öffnen kann. Und das ist es schliesslich, was an dieser Musik so direkt anspricht.

Thomas Meyer ist freier Musikkritiker und Publizist (Tagesanzeiger Zürich, Schweizer Radio DRS2 u.a.)

Erschienen in
clingKlong
Nr. 54, Winter 2005-2006
herausgegeben vom FrauenMusikForum Schweiz