Text zur Portrait-CD 1

Iris Szeghy – Porträtkonzert

Von Prof. Dr. Christoph Sramek

Lichtvolle Klangwirkungen trotz geringer Lautstärke, feinste Ziselierungen des Einzeltons und spannungsgeladene Pausen kennzeichnen ein Stück des inneren Reichtums der Musik von Iris Szeghy. Sie lässt nicht selten zurückliegende Epochen der Musikgeschichte anklingen und verwendet etwa modale melodische Wendungen, die auf eigenständige, beinahe asketische Weise mit avantgardistischen Strukturen verschmolzen sind. Werke für traditionelle Genres wie Streichquartett, Konzert, begleitetes Sololied und Chor a cappella stehen in einer Reihe mit anderen, oft programmatischen Solo-, Ensemble- und Orchesterkompositionen, in denen eine nachvollziehbare Entwicklungskonzeption bevorzugt wird. Dabei entfaltet sich eine reizvoll eigenständige Expressivität und oft auch Spiritualität, die empfindsame Seiten der Sinnlichkeit zur Geltung bringt und gelegentlich Steigerungen aus Zurücknahmen gewinnt.

Klare ästhetische Grundpositionen formuliert die an einer Nahtstelle zwischen Ost-und Westeuropa aufgewachsene Komponistin in ihrem Vortrag „Warum, Was und Wie – eine kompositorische Reflexion und Selbstreflexion“, 1999 gehalten im Rahmen des von ihr konzeptionell mitgestalteten Melos-Ethos-Festivals von Bratislava. Dort bekennt sie unter anderem: „Die Musik ist für mich eine Sehnsucht nach Monolog und Dialog zugleich, nach Selbstäußerung, Selbstbestätigung und Selbsthingabe, eine Frage, die für Antworten steht, eine Antwort, die für Fragen steht. Sie ist eine Brücke.“

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Dass ihre Empfindungen vom unmittelbar naturverbundenen Leben in ihrer Kindheit bis zu höchst philosophischen, globalen Fragen der Menschheit reichen, verdeutlicht ihr vielfältiges Vokalschaffen. Der für die texanische Sängerin Beth Griffith geschriebene „Psalm“ (nach einem Text von Paul Celan) belegt diese Tendenz ebenso wie das vom englischen Hilliard Ensemble initiierte vierstimmige „Oratio et gratias actio pro sanitate matris meae“. Ihre weit gespannten literarischen Interessen kommen aber beispielsweise auch in den frühen Klavierliedern „Simple and Difficult“ nach Versen des slowakischen Dichters Milan Rúfus, in „De Profundis“ für Stimme, flöte oder Klarinette und Violine oder Viola nach Gedichten Michelangelo Buonarrotis sowie in ihren „Three Shakespearean Songs“ für Chor a cappella zum Ausdruck.

Eine direkte Brücke zum Hörer sucht Iris Szeghy gleichermaßen in ihrer Instrumentalmusik etwa durch Titel wie „Homewards“, ein nach dem Tod ihres Vaters geschaffenes Orchesterstück, sowie durch die Verwendung tradierter Formmodellc. In den Ecksätzen ihres besonders erfolgreich aufgeführten „Streichquartetts (Musica dolorosa)“ berücksichtigt sie den Sonatenhauptsatz und die Variationsform. In ihrem Konzert für Violoncello und Orchester hingegen, das zum Schluss ihres mit einer Dissertation verbundenen kompositorischen Aufbausstudiums an der Musikhochschule von Bratislava entstand, lauten die Satzbezeichnungen: 1. Passacaglia, 2. Toccata und 3. Aria.

Davon freilich eine neobarocke oder postmodernen Strömungen folgende kompositorische Handschrift ableiten zu wollen, entspricht weder der Schaffenshaltung von Iris Szeghy noch der Klangstruktur ihrer Werke. Obwohl sie sich schon während ihres Klavier- und Kompositionsunterrichts am Konservatorium von Kosice und danach auch im Verlaufe ihres Kompositionsstudiums an der Musikhochschule von Bratislava mit den verschiedensten Stilen und Richtungen in Vergangenheit und Gegenwart aktiv auseinandersetzte, fühlte sie sich nie zu eng begrenzten Verfahren hingezogen. Vielmehr strebte die Komponistin nach einer individuellen musikalischen Sprache auf der Basis einer schöpferischen Synthese zwischen Avantgarde und Tradition. Seit 1990 freischaffend, vervollständigte sie ihre künstlerischen Fähigkeiten vorrangig durch Stipendien der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart, durch einen von der Soros Stiftung getragenen Aufenthalt an der University of California in San Diego sowie durch die Unterstützung des STEIM Studios in Amsterdam. Außerdem erhielt sie wichtige Anregungen als „composer in residence“ der Hamburgischen Staatsoper sowie durch Kompositionsaufenthalte in den Künstlerhäusern von Worpswede/Niedersachsen und von Boswil in der Schweiz. Zugleich fand sie dadurch Kontakt zu zahlreichen Rundfunkanstalten und zu Interpreten wie dem Hilliard Ensemble aus England, dem Züricher Ensemble Cattrall (Kompositionsauftrag der Pro Helvetia Zürich) und dem SurPlus Ensemble Freiburg. Als Ausdruck der besonderen Anerkennung ihres Schaffens fanden in Stuttgart (1993), in San Diego (1994). in Hamburg (1996) und in Bremen (1999) Porträtkonzerte statt.

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Im engen Zusammenwirken mit dem renommierten süddeutschen SurPlus Ensemble schuf Iris Szeghy 1993 in Stuttgart ihre Kompositionen „In Between“ für Oboe und Tonband sowie „Perpetuum mobile“ für präpariertes Klavier. Durch die Widmung „to Peter Veale“ und den Partiturhinweis auf dessen Buch „Die Spieltechnik der Oboe“, das er gemeinsam mit Claus-Steffen Mahnkopf herausgegeben hat, lässt die Komponistin erkennen, welche Anregungen sie dem Interpreten des Oboen-Stückes verdankt. Die instrumentale Solostimme beginnt mit unscheinbaren Geräuschakzenten, die zu Slap-Tönen mutieren und auf dem eruptiven Höhepunkt zu elektrisierenden Mehrklängen/multiphonics führen. Organisch auseinander hervorgehende Farbnuancen beschreiben dabei eine auf Steigerung und Kulmination zielende Entwicklungsform, die die Komponistin auch auf andere Werke überträgt.

Aber nicht nur polare Beziehungen zwischen energiegeladener Ruhe und hektischer Bewegung, zwischen unterschiedlichen Farben und Impulsdichten bestimmen dieses Stück, sondern auch zunehmende Gegensätze zwischen dem oft exzeptionell wirkenden Instrumentalklang und den technisch konservierten Umweltgeräuschen. Die Tonbandaufrahmen stammen zum einen gewissermaßen vom Wellenreiten zwischen zwei Radiosendern und zum anderen von Schritten, die näher kommen und sich wieder entfernen. Insgesamt ergibt sich aus diesen Konstellationen eine vielschichtige Programmatik, die Iris Szeghy von ihrer Stuttgarter Begegnung mit Vladimir Mironenko aus Moskau ableitet. Der Maler beschäftigte sich mit einer .Neutralen Zone‘, einem imaginären Raum etwa zwischen Leben und Tod, zwischen Wirklichkeit und Traum, um das -wie er selbst sagt – ,Gefühl einer bestimmten Gegenwart auszudrücken, in der sichtbares Beweismaterial fehlt‘. Iris Szeghy fügt diesen Intentionen hinzu: „Wir leben ständig ,dazwischen‘. Im Zwischenraum, in der Zwischenzeit, in den Zwischenbeziehungen. Wir wollen etwas Reines erfassen, ein Motiv. einen Ton, aber, es scheint so, über aller Reinheit steht das ,Dazwischen‘. Zwischen-Welt, Zwischen-Mensch, Zwischen-Ich. Zwischen-Du.“

Einer Glockenkurve vergleichbar entfaltet sich der Spannungsverlauf des ebenfalls 1993 entstandene „Perpetuum mobile“. Hier jedoch dienen Resonanzeffekte des Pedals, unterschiedlich präparierte Tonhöhenbereiche des Klaviers sowie Hand- und Armcluster mit fast unaufhörlich schwingender Motorik zur Gestaltung der musikalischen Ereignisse.

Die anderen beiden solistisch besetzten Werke, „Preludio e Danza“ für Bassklarinette von 1992 sowie die „Ciaconna“ für Viola solo von 1991, gewinnen durch ähnlich avantgardistische Spielweisen an exzellenter Farbigkeit und virtuosem Reiz. Die ursprünglichfür das Bassetthorn gedachte Tanzminiatur wird darüber hinaus von schnellen Registerwechseln innerhalb des äußerst wandlungsfähigen Instruments geprägt. Dadurch verweben sich die zunehmend vitalen Repetitionen auf dem tiefsten Ton des Instruments mit modalen melodischen Floskeln, die sich bis zu orgastischen Gesten des Free Jazz aufschwingen.

Den geistigen Ausgangspunkt für die „Ciaconna“ bildet Johann Sebastian Bachs opulentes Finale aus der Partita Nr. 2 in d-Moll BWV 1004 für Violine solo. Dieser als Chaconne bezeichnete Satz stellt die einzige Folge von Variationen über einem gleichbleibenden Bass mit festliegender Akkordfolge dar, die der berühmte Leipziger Thomaskantor innerhalb seiner Kammermusik geschaffen hat. Iris Szeghy zitiert das Werk nicht unmittelbar, lässt aber durch stilistische Annäherungen an diese Form der Barockmusik spüren, dass sie mit Bach einen Dialogfuhren möchte. Sie beginnt tatsächlich im quintverwandten g-Moll und berücksichtigt über weite Strecken eine achttaktige Periodik. Zudem lässt sie freilich durch die Bezeichnungen Lento – Andante – Largo und Tempo I (in der zweiten Wiederholung zur Kennzeichnung einer Art Coda) auch die dreiteilige Form des klassischen Sonatenhauptsatzes aufscheinen. Dabei verwendet sie zur Dynamisierung des musikalischen Geschehens einmal mehr moderne Artikulationsarten wie die Kombination von Tremolo und Glissando, improvisierte Läufe zwischen festgelegten Rahmentönen sowie eine stark farbverändernde Mikrointervallik. Im Ergebnis dieses „Gesprächs“ mit Bach entsteht nach Aussage der Komponistin „eine nostalgische Erinnerung an die vergangene Zeit, an Schönheit und Einfachheit, die unwiederbringlich verloren sind“.

Unbezwingbare Urgewalten aus Klang, Rhythmus und Stille werden demgegenüber in „Midsummer Night’s Mystery“ für zwei Schlagzeuger beschworen. Das 1992 entstandene Werk bewegt sich in den mit „Fire“ und ..Dawn“ überschriebenen Rahmenteilen am Rande des Verstummens und bringt zarteste Nuancen von Tomtoms, Marimbaphon, Becken und später auch einer Röhrenglocke zum Vorschein. Im lückenlos eingefügten Mittelsatz „Dance“ hingegen sorgen die eingesetzten Clusterschläge für impulsive Aufbrüche des Rhythmischen. Wie Iris Szeghy selbst mitteilt, geht diese Musik „zurück auf uralte heidnische Rituale, die die Sommersonnenwende begleiten. Die Magie dieses Abends, dieser Nacht und dieses Morgens hat bei den verschiedenen Völkern verschiedene Formen angenommen, aber das Symbol des mit Liedern und Tänzen begleiteten Feuers ist fast überall zu finden. Konkret zum Stück: Nach dem von einer winzigen Flamme allmählich entfachten Feuer kommt die Explosion eines barbarischen Tanzes, der nach seinem Höhepunkt einer Morgendämmerung weicht. Das einfache Endmotiv symbolisiert alles Neue, Entstehende und noch Scheue, aber in seiner reinigenden Kraft Unbesiegbare.“

Momente von Archetypischem und Zeitgenössischem verbinden sich in ähnlicher Weise auch in der 1996 komponierten „Musica folclorica“ für Klarinette, Schlagzeug und Klavier zu einem originell gefügten Ganzen, das Iris Szeghy im Untertitel als ..Hommage a Bartók“ bezeichnet. Intonationen aus balkanischer, slawischer und ungarischer Volksmusik verflechten sich mit konsequent fortschreitenden Satztechniken und außergewöhnlichen Spielweisen zu einem siebenteiligen klanglichen Bilderbogen, dessen Hauptmotive von den Sätzen „Poetico“, „Baladico“ und „Ritmico“ getragen werden. In den Vordergrund tritt dabei der Kontrast zwischen überwiegend Melodischem, Klanglichem und Rhythmischem. Der Hintergrund hingegen ist durch Prä- und Postludium sowie zwei Interludien skizziert, die sich mit höherer Geschwindigkeit wiederholen. Was die Komponistin vorher anhand von Solowerken erprobte, verdichtet sie hier zu einer Musik für Kammerensemble. „Die Volksmelodik und -rhythmik“, so erläutert sie selbst, „ist im Stück manchmal offensichtlich. manchmal versteckt, manchmal ist sie überhaupt nicht anwesend, aber eine gewisse Art des .Volksespressivo‘ ist fast ständig hörbar.“

Die Grundhaltung einer klanglich-strukturellen Dialektik bestimmt in noch stärkerem Maße auch ihren Zyklus „Afforismi II“ für Flöte, Oboe/Englisch Horn und Bassklarinette aus dem Jahre 1992. Fast als eine Art Leitmotiv durchziehen sphärische Sekundklänge die sieben kurzen Sätze, die allerdings durch prägnante Gegenpositionen überraschende Pointierungen aufweisen. In den Eckteilen formulieren Slap-Tone diesen thematischen Kontrapunkt, im achsenartigen Mittelteil sind es Anklänge an die Kadenzharmonik. Im zweiten Satz leitet sich die Antithese aus der Überlagerung terztransponierter pentatonischer Skalen ab, im dritten dagegen aus chromatisch untersetzten Imitationen, die sich zum Flächenhafien aufladen. Welch feinsinniger Humor, welch ambivalente Haltung sich hinter diesem dualistischen Spiel verbirgt, offenbart sich am deutlichsten im fünften und sechsten Satz. Einerseits bezieht sich die Komponistin hier auf Lautmalerei zur Charakterisierung des Einstimmens eines Orchesters und andererseits verwendet sie konventionelle Choralintonationen, die sehr bald von aggressiven Klängen in Zweifel gezogen werden. Da den einzelnen Sätzen aber auch Textzitate berühmter Literaten und Philosophen beigeordnet sind, öffnet sich ein weiter assoziativer Raum, der vom Individuellen bis zum Gesellschaftlichen reicht.

Prof. Dr. Christoph Sramek ist Musikwissenschafter, Kritiker und Publizist, Pädagoge an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig.