Interview von Esther Flückiger

E.F.: Ich kenne dich als Komponistin von Aufnahmen, einem Konzert und unserem regen persönlichen Briefwechsel. Wie entsteht bei Dir eine Komposition? Woran inspirierst du dich?

I.S.: Es ist immer ein längerer Prozess. Bevor ich die erste Note aufschreibe, passiert ziemlich viel … Ich lasse mir einige Zeit für das Nachdenken über die Idee des Stückes, seine Form, seine Stimmung, Instrumentierung, Farbe. Wenn diese Sachen für mich klar sind (es können Wochen und Monate inzwischen vorbeigehen, dabei schreibe ich ein anderes Stück) und ich mit der vorigen Komposition fertig bin, fange ich an, „den Anfang zu suchen“. Die ersten Töne, Harmonien, Klangfarben. Dann arbeite ich Wochen, Monate lang an dem Stück, und in einem gewissen Moment fange ich an, über die nächste Komposition nachzudenken …. Die Situation wiederholt sich.
Die Inspiration kommt bei mir aus verschiedensten Quellen: der Musik selbst, von etwas ausser ihr wie einem Kunst- oder Literaturwerk, von der Natur oder von etwas, was den Menschen oder die Gesellschaft angeht. Die Inspirationsquelle des Werkes ist bei mir meistens nicht versteckt, widerspiegelt sich in seinem Titel oder ich verrate sie in meinem Werkkommentar. Insofern sind meine Werke wenig „abstrakt“ …

E.F.: Deine Klavier– und Ensemblewerke mit Klavier erklingen oft in präpariertem Klang. Was bewegt dich dazu? Eventuell (d)ein Interesse für die Improvisation? Spielst du selbst noch ein Instrument und improvisierst du auch?

I.S.: Mich interessiert die spezielle Farbe des präparierten Klaviers, die besondere Stimmung, die diese Farbe weckt. Ich mag sehr, wenn das Klavier „anders“ klingt, es fordert meine Klangfantasie heraus. Die praktische Umsetzung ist aber nicht immer ganz einfach, sie erfordert vom Interpreten viel Geschick und Fantasie.Ich spiele selbst Klavier, wahrscheinlich deshalb mag ich, wenn es einmal „anders“ klingt. Mit Improvisation hat es eigentlich wenig zu tun.

E.F.: Was bedeuten für dich eingebaute Improvisationen in Kompositionen der zeitgenössischen Musik?

I.S.: Ich mag sie sehr, soweit sie nicht zu lang und klanglich interessant sind. Du hast sicher bemerkt, dass ich die sogenannte „kleine Aleatorik“, freie Improvisation in einem beschränkten Rahmen, oft, fast in jedem Werk in einer gewissen Form benutze. Sie bringt für mich eine erwünschte Erfrischung in den strengen kompositorischen Prozess.

E.F.: Was bedeuten für dich Klang/Ton und Sonorität eines grossen Orchesters?

I.S.: Ich bin eben 4 Tage nach der Uraufführung meines Werkes „Homewards“ für grosses Sinfonieorchester, voll von Eindrücken von den Proben, vom grossen Orchesterklang, die Frage kommt zur richtigen Zeit. Ein grosses Orchester ist eine spezielle Klangkategorie, ähnlich wie das präparierte Klavier. Wenn letzteres ein Mikrokosmos sein könnte, wäre das grosse Orchester ein Makrokosmos. Ein Bild der Welt, des Universums, wo das Verschiedenste sich in einer Einheit verbindet. Als solches fasziniert es mich sehr, Seine Klang-, Struktur-, Ausdrucksmöglichkeiten und -kombinationen sind unerschöpflich. Es ist immer eine Herausforderung, dieser Möglichkeit gegenüber zu stehen, ich mache dies mit grösstem Vergnügen.

E.F.: Viele deiner Werke stehen im Dialog mit literarischen Themen und Titeln. Wie ist dein Interesse für die literarische Welt entstanden?

I.S.: Die Wurzeln reichen zurück in meine Kindheit – Literatur, Bücher waren in meiner Familie sehr geschätzt. Es interessieren mich aber generell alle Kunstsparten, sie sind untereinander nicht so verschieden, wie man vielleicht denken könnte. Alle Künstler arbeiten mit Stilisierung der Wirklichkeit, schaffen in ihren Werken eine imaginäre, schönere, bessere Welt. Auch wenn sie die tragischen, düsteren Seiten des Menschen zeigen.
Im Zusammenhang mit meinen literarischen Interessen ist vielleicht noch interessant zu erwähnen, dass meine erste Komposition überhaupt von einem Gedicht inspiriert wurde. Ich war 17, habe zum ersten Mal den Tod einer nahestehenden Person erlebt. Jenes Gedicht hat meine Gefühle sehr genau widerspiegelt und hat mich, aus irgendwelchen Gründen, zur Vertonung inspiriert. Mit diesem Versuch habe ich für mich eine neue Welt entdeckt, die ich nicht mehr verlassen konnte.

E.F.: Nimmst du an, dass der Gebrauch der Stimme eine direkte Derivation vom Gebrauch poetisch-literarischen Seiten in deinen Werken ist oder hast du dem Instrument Stimme gegenüber eine besondere Vorliebe?

I.S.: Beides. Ich benutze die Stimme, weil sie ein besonderes, wunderbares Instrument ist und uns, auch wenn nur unbewusst, am nächsten steht – ist sie doch ein Produkt unseres Körpers. In manchen Stücken habe ich die menschliche Stimme ohne eine literarische Vorlage benutzt, sozusagen als Symbol des Menschlichen (wie z.B. in „Story“ für Stimme und Tonband). Auf der anderen Seite mag ich die Kombination des Wortes und des Tones sehr, entweder vertont als Gesang oder rezitiert als gesprochener Text in Kombination mit Musik.

E.F.: Oft greifst du in deiner Musik auf Epochen der Vergangenheit zurück, welche du dann mit Elementen der Neuen Musik zu einem „Ganzen“ und „Neuen“ werden lässt. Dies fiel mir u.a. im Trio“ Musica folclorica (Hommage à Bartok)“ auf.
Kannst du kurz erklären warum? Möchtest du damit einen Dialog kreieren? Altes in einer neuen Musiksprache erklingen lassen?

I.S.: Ja, genau, ich will in Dialog mit der musikalischen Vergangenheit treten, ich will das Alte im Neuen, evtl. das Neue im Alten (hier denke ich vor allem an eine alte Form) erklingen lassen. Die musikalische Vergangenheit, die Tradition hat für mich einen grossen Reiz, aber nur wenn sie echt kreativ in einem zeitgenössischen Werk bearbeitet und nicht zum Fetisch wird. Kreativ in diesem Feld zu sein, immer neue Zusammenhänge und Blickwinkel in Beziehung „Gestern-Heute“ zu suchen ist eine sehr spannende Aufgabe.

E.F.: Wie stehst du zur aktuellen Kontamination zwischen verschiedenen Genres und Ausdrucksweisen? Denkst du, dass ethisches und soziales Engagement in die kompositorische Laufbahn miteinbezogen werden müsste?

I.S.: Wenn diese Kontamination künstlerisch begründet und überzeugend ist, finde ich sie sehr inspirierend, innovativ. Aber der künstlerischen Wert sollte prioritär sein, nicht das soziale oder ethische Engagement. Kein Engagement rettet ein schwaches oder mittelmässiges Werk. Das heisst aber nicht, dass ich ethisches und soziales Engagement nicht wichtig finde, vor allem in der heutigen Zeit, wo der Mensch anfängt, die ethische Dimension seiner Macht zu realisieren. Die Kunst selbst, insofern sie gut ist, enthält in sich schon neben der ästhetischen auch eine ethische und soziale Dimension, in dem Sinne, als sie auch ethisch und sozial wirkt.

E.F.: Was bedeutet für dich, Musik vermitteln? Haben die zeitgenössischen Komponisten und Komponistinnen eine Art Verantwortung dem Publikum gegenüber?

I.S.: Es bedeutet für mich den Sinn meines Lebens, meine persönliche Botschaft. Du hast es schön formuliert – Musik vermitteln …. Diese Formulierung nimmt an, dass eine Komponistin/ein Komponist die Musik von irgendwoher „übernimmt“ und sie dann weitergibt. Sie/er ist ein/e Botschafter/in, aber zugleich ein/e Schöpfer/in, weil das „Übernehmen“ der Musik ein schöpferischer Akt ist. Ich kann mir kaum einen schöneren Beruf vorstellen …..
Sicher haben die zeitgenössischen Komponisten und Komponistinnen Verantwortung gegenüber dem Publikum, genauso wie jeder andere menschliche Beruf sie gegenüber der Gesellschaft hat. Wir schreiben Musik nicht nur für uns selbst, aber vor allem für die anderen – jede andere Meinung ist eine Pose.

E.F.: Glaubstdu, es gibt eine richtige Definition für deine Musik?

I.S.: „Die richtige Definition“ ist ein sehr starker Ausdruck. Die Musik ist Kunst, nicht Wissenschaft, ich denke nicht, dass man zu einem Musikstil nur eine richtige und echte Definition haben kann. Ausserdem, der Komponist/die Komponistin selbst hat nicht den notwendigen Abstand dazu.

E.F.: Kannst du einige charakteristische Merkmale deines Stiles nennen?

I.S.: Das kann ich eher … Ich würde sagen: Streben nach Ausgeglichenheit der Emotion und Konstruktion, der Mikro- und Makroform, des Neuen und Alten. Weiter ist es die wichtige Rolle der Farbe, die feine Ziselierung des Details, öfteres Auftreten der aussermusikalischen Inspiration, die meinen Stil prägen.

E.F.: In deiner Arbeit erscheint mir auch eine Tendenz zu religiösen Hintergründen, nur schon aus den Titeln lesend oder bsp. in der Ciaconna für Viola. Liege ich da vielleicht komplett falsch?

I.S.: Ja und nein. Ciaccona hat keinen religiösen Hintergrund, es sind, dem Titel entsprechend, Variationen über ein Thema, das der barocken Chaconne ähnlich ist. Einige andere meiner Werke haben aber sozusagen einen „religiösen“ Hintergrund. Ich weigere mich, das Wort „religiös“ zu benutzen, weil ich mich selber nicht als religiöse Person empfinde, ich bekenne mich zu keiner bestimmten Religion. Die Fragen nach Gott und einer geistigen Welt, in oder ausser uns, beschäftigen mich jedoch, deshalb habe ich ein paar Mal auf religiöse Texten zurückgegriffen. Wie etwa in meinen Chorwerken wie Oratio et gratiarum actio pro sanitate matris meae, Psalm 130, Ein Gebet oder in meinen Kammerwerken Ave Maria und Für Dich.

E.F.: Du bist erst kürzlich von Bratislava in die Schweiz gezogen; spürst du Differenzen zwischen der slawischen und der schweizerischen Musik-Szene? Wenn ja, wie wirkt es sich auf deine schöpferische Arbeit aus?

I.S.: Deine Frage werde ich unter zwei Aspekten beantworten – vom künstlerischen und praktischen, und ich beschränke mich auf die Situation der Neuen Musik, sie ist ja mein Gebiet. Ich muss aber vorausschicken, dass ich erst zwei Jahre in der Schweiz bin; meine Beobachtungen sind also so zu nehmen, es fehlt mir die nötige breitere Kenntnis, um ganz objektiv zu sein.
Betreffs der Stilvielschichtigkeit der zeitgenössischen Musik-Szene scheint mir die slawische oder generell die osteuropäische (vergessen wir nicht, dass z.B. Ungarn kein slawisches Land ist !) Neue Musik-Szene bunter, die Schweiz einheitlicher. In Kreisen, in denen ich mich in der Schweiz bewege, empfinde ich eine prägende, mehr oder weniger einheitliche Linie der Musiksprache, die zum Massstab wird. In Ost-Europa ist das Neue Musik-Milieu liberaler, stilistische Massstäbe gibt es kaum. Ich wirke in beiden Welten irgendwie fremd – im Osten geprägt vom Westen, im Westen geprägt vom Osten. Ich selber sehe mich irgendwo in der Mitte ….
Betreffs der Möglichkeiten, welche die Schweiz der Neuen Musik Szene bietet, also betreffs des praktischen Aspekts Deiner Frage, scheint mir die Schweiz im Vergleich z.B. mit der Slowakei ein Paradies zu sein. Wenn man sich die Neue Musik-Programme in Zürich oder Basel anschaut, kriegt er/sie einen angenehmen Schwindel. Dasselbe bei der Anzahl der Neuen Musik Ensembles, Interpreten, oder der Sendungen im Radio, die sich der Neuen Musik widmen. Die andere Sache ist, ob alle diese Phänomene dennoch nicht ein Neue Musik Ghetto bilden, es sind ja meistens immer die selben Gesichter, die man bei den Neue Musik-Veranstaltungen trifft. Die Frage stellt sich, wie weit die Neue Musik ein fester Bestandteil der Standardprogramme von nicht spezialisierten Orchestern, Ensembles, Interpreten ist, und hier scheint mir die Situation leider nicht viel erfreulicher als die in der Slowakei.
Und die Auswirkung auf meine schöpferische Arbeit? Weil ich hier noch ein „unbekanntes Gesicht“ bin, richtet sich mein Streben primär auf das Knüpfen von Kontakten, aufs „Fuss fassen“ in der Schweiz. Das ist der praktische Aspekt. Vom künstlerischen Aspekt her sehe ich momentan noch keine „schweizerischen“ Einflüsse auf meine Musiksprache, vielleicht kommen sie später oder kommen sie nie, das kann ich jetzt nicht wissen.

E.F.: Wie (er)lebst du als Frau dein Leben und deine Arbeit als Komponistin? Glaubst du, dass es immer noch Diskrimination im musikalischen Ambiente, in dem du dich befindest gibt, und wenn ja, fühlst du dich davon konditioniert?

I.S.: Ich habe mich lange Zeit fast ausschliesslich der Musik gewidmet, vor zwei Jahren hat es sich aber geändert. Ich habe geheiratet – das ist ja auch der Grund, weshalb ich in die Schweiz gekommen bin. Zum Glück hat mein Mann volles Verständnis für meine Arbeit und unterstützt mich sehr – so führe ich eigentlich mein bisheriges „musikvolles“ Leben weiter. Diskrimination treffe ich nur ausser meinem Haus, und dies ist gar nicht selbstverständlich. Dass es eine Diskrimination gegenüber Frauen in der Gesellschaft gibt, darüber braucht man nicht zu diskutieren, es ist leider klar. Natürlich verstehe ich unter einer Diskrimination nicht deren offensichtliche, transparente Manifestation, sondern eine Diskrimination, die tief im Denken, im Unbewusstsein der Männer, aber genauso der Frauen, verankert ist. Eine Frau wird, bewusst oder unbewusst, „anders“ angesehen – mit kleineren oder grösseren Erwartungen, mit kleineren oder grösseren Ansprüchen an ihre Leistung. Einfach „anders“. Eine Frau muss sich ihren Raum in der Gesellschaft viel härter als ein Mann erobern; um die selbe Position zu gewinnen, muss sie viel besser sein als ein Mann. Und wie ich mit diesen Umständen umgehe ? Manchmal sind sie stimulierend, manchmal ermüdend.

E.F.: Welche Meinung hast Du von der gegenwärtigen Szene der Neuen Musik und wem schreibst du das allgemeine Desinteresse dafür zu; den Interpreten, den Komponisten, der Art der Vermittlung?

I.S.: Meine Meinung zur gegenwärtigen Neue Musik-Szene habe ich oben bereits angedeutet – diese ist mehr oder weniger in eine Ghetto Lage geraten. Bis Crumb nicht selbstverständlich neben Beethoven, Huber neben Schumann und ich neben Mozart auf Programmen stehen, bleibt sie auch eine „Ghetto-Musik“. Und wer ist Schuld ? Alle. Die KomponistInnen, weil ihre Musik oft nicht die höchsten Qualitätskriterien erfüllt, ihre Musik oft mehr für Augen als für Ohren ist und ganz entfremdet klingt; die InterpretInnen, weil sie oft „Panik“ vor den Veranstaltern und ihren Vorstellungen haben und Konformität gegenüber der eigenen Meinung bevorzugen; die Veranstalter, weil sie oft „Panik“ vor dem Publikum haben und Konformität gegenüber dem Mut bevorzugen; die MusiklehrerInnen, weil sie nicht gerne neue Wege gehen; die ZuhörerInnen scheinen mir hier noch die Unschuldigste zu sein, doch auch sie erwarten allzu oft das Gewohnte. Ein Teufelskreis !

E.F.: Denkst du, dass die aktuelle Komposition eine Zukunft haben wird?

I.S.: Dass etwas überlebt, bin ich mir ganz sicher. Aber wahrscheinlich nur das, was ins Standardrepertoire kommt, siehe meine vorige Antwort ….

E.F.: Welches sind die Komponisten und Komponistinnen (Gegenwart und Vergangenheit), die du bevorzugst, hast du Präferenzen?

I.S.: Ich sage Dir ein paar Namen der Komponisten, die mir besonders nahe stehen, ohne Rücksicht darauf, wann sie lebten. Wie weit sie meine Musikentwicklung beeinflusst haben, ist aber eine Frage für einen Musikwissenschaftler. Also – ich mag Bach, Beethoven, Mussorgskij, Debussy, Janacek, Schostakowitsch, Schnittke, Crumb, Messiaen, Ligeti, Gubajdulina, Grisey. Und ich mag Volksmusik.

E.F.: Wie komponierst du? Vor allem auf Aufträge?

I.S.: Jetzt schon, vorher auch aus innerem Bedürfnis. So ist es aber leider passiert, dass ich bis heute mehrere Werke geschrieben habe, die noch keine Interpreten gefunden habe – weil sie eine spezielle Besetzung verlangen, oder ich habe noch nicht die nötige Zeit gefunden, mich auf die Suche nach Interpreten zu geben. Heute schreibe ich nur für bestimmte InterpretInnen, Ensembles, oder für eine konkrete Konzertgelegenheit.


publiziert in:

cling Klong No. 51, Frühling 2004, herausgegeben vom FrauenMusikForum Schweiz
VivaVoce No. 70, Frühjahr 2005, herausgegeben vom Frau und Musik, Internationaler Arbeitskreis e.V. Deutschland
Journal of the IAWM , Volume 11, No.2, 2005, published by the International Alliance for Women in Music, U.S.A.


Esther Flückiger ist Pianistin, Improvisatorin und Komponistin. Sie lebt in Italien und der Schweiz.